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Ein Spielverderber hing am Glockenseil

Jeder hat online bereits miterleben müssen, wie sich Dudes mit poetisch umkleideten Namen wie micropenis_1995 in der Kommentarsektion einer Website, in Foren oder unter Youtube-Videos zur Qualität einer Produktion ausgelassen und damit einen Streit vom Zaun gebrochen haben, von dem sich jede Zankerei im Kindergarten durch Niveau abhebt. Ich will micropenis_1995 auf keinen Fall verteidigen. Die Chance ist sehr hoch, dass er bloß ein Troll auf Suche nach Entertainment ist und von Ahnung keinen blassen Dunst hat - vollkommen egal zu welchem Thema. Worauf ich raus will: heutzutage hält sich jeder für einen Kritiker und jeder wird, was ich noch schlimmer finde, als Kritiker wahrgenommen. Als ob kritisch sein per se ein Indikator für Durchblick sei. Meistens ist es das Beste derlei Dummschwätzer zu ignorieren und nicht noch mit Aufmerksamkeit zu adeln.

Halts Maul! Versau uns nicht die Stimmung!

Ich bin mir der Ironie durchaus bewusst. Schließlich betreibe ich einen Blog, in dem ich ausführlich meine Meinung ausbreite und dabei zumindest Expertise zu simulieren gedenke. - Hüstel! Jedenfalls, ist der dezente Unterschied, dass ich hier maximal einen Monolog führe und nicht auf Streit aus bin. Die Leserschaft dieses Blogs mag das anders wahrnehmen, denn sie ist wie micropenis_1995 ebenfalls Teil des Problems. Shocking, ich weiß! Es ist nicht die Aufgabe des Kritikers auf die parasozialen Gefühle von Fans Rücksicht zu nehmen. 

Doch von vorne. Um Missverständnisse zu vermeiden ist ein kleiner Exkurs zum Thema Kritik vonnöten. 

Eine Kritik ist die Betrachtung und Bewertung eines Werks entlang eines variablen Maßstabs, der sich aus einer  Mischung von objektiven und subjektiven Kriterien zusammensetzt. Kritik wird im allgemeinen Sprachgebrauch oft negativ verwendet. Dabei bedeutet Kritik nicht automatisch ein schlechtes Urteil als Ziel zu haben. Sie ist als Begriff neutral. Auf der anderen Seite bedeutet das jedoch nicht, dass die Kritik objektiv ist oder zu sein hat.

Auch wenn viele Menschen ganz, ganz dolle fest an den Goldstandard der objektiven Kritik glauben, deren Altar regelmäßig von unsereins geschändet wird, ist das genaue Gegenteil der Fall. Kritik ist immer im höchsten Maße subjektiv. Eher trifft man im Schwarzwald auf den Wolpertinger oder einen nicht korrupten Sportfunktionär als dass man eine objektive Kritik findet. Eine solche wäre wohl eine langweilige Lektüre, die über Wikipedia-Charme nicht hinaus käme. Also ja, eine Kritik ist immer eine sehr individuelle Meinung. Andersherum betrachtet ist eine Meinung jedoch nicht automatisch eine Kritik. 

"Findsch Scheiße! Mag Cruisens Tom nich sehen. Kann nix!", ist zwar eine lautstark vorgebrachte Meinung, taugt allerdings als Kritik so viel wie ein durchlöchertes Kondom. Kritik sollte immer in Form einer nachvollziehbar Agrumentation daherkommen, die die Sichtweise der kritisierenden Person darlegt. Der kann man dann zustimmen oder eben nicht. 

Drei Aspekte spielen in der Kritik eine vorherrschende Rolle:

  1. Die diskreptive und formale Analyse, die den Inhalt bescheibt und die handwerkliche Umsetzung bewertet. In aller Regel gibt es hier wenig Reibungspunkte. Dysfunktionale Spielmechaniken, billige Filmeffekte, fehlerhafter Einsatz von Bildsprache oder Plotholes lassen sich relativ einfach und objektiv herausarbeiten.

  2. Die thematische und ideologische Analyse, die zudem Kontext herstellt. Wurde das gesetzte Thema ausreichend herausgearbeitet? Wird verständlich, was Regisseure und Autoren vermitteln wollten? Wird die Messge plump oder elegant vermittelt? Gibt es versteckte Botschaften? Beispielhafte Fragen, die in diesem Feld aufkommen können, und klar machen, dass es hier ans Eingemachte geht. Es treffen Sichtweisen auf die Welt aufeinander. Streit ist vorprogrammiert

  3. Bewertung der Ästhetik. Egal ob Filmfilter, Effekte, Kostüme, Masken, Sounddesign, Levelgestaltung oder schauspielerische Leistung, hier geht es rein um den persönlichen Geschmack. Nicht umsonst habe ich den Begriff Analyse an dieser Stelle ausgespart. Sicherlich gibt es hier immer wieder hohe Übereinstimmungen zu einzelnen Punkten, aber ob man etwas schön oder gut gelungen findet, ist halt sehr subjektiv.

Jeder Kritiker hat einen eigenen Themenschwerpunkt und weiß an Stellen mit Expertise zu glänzen, die anderen wiederum fehlt. Einige verlegen sich mehr auf die technischen Aspekte, wie die MovieAmphs oder EveryFrameAPainting, andere legen ihren Fokus auf Ideeologiekritik, wie Wolfgang M. Schmitt mit seiner Filmanalyse. Alle Varianten sind legitim und so fehlerhaft wie zutreffend zugleich, aber eines sind sie nicht: ein Front der Rezipienten. Diese sind nicht die Adressaten der Kritik, sondern die Erschaffer des Werks. Als Aussage eigentlich ein No-Brainer, aber dass ich das an dieser Stelle nochmal explizit erwähnen muss, sagt viel über die Konsumenten aus. Dass die Kreativschaffenden gelegentlich persönlich beleidigt sind, ist da eher nachvollziehbar. Oft endet ein daraus entstehender Beef aber ebenfalls im Kindegarten.

Kritiken werden im besten Fall als Leitfaden oder Leuchtturm durch die Landschaft der Kulturgüter aufgefasst und auch mit diesem Zweck im Hinterkopf verfasst. Sie dienen weder der Hofierung noch Beleidigung derjenigen, die etwas toll finden. Selbst wenn vieles gegen ein Werk sprechen mag, jeder darf den größten Müll feiern oder Lobpreisungen nicht nachvollziehbar finden.

Zeig an der Puppe, wo dich die Kritik angefasstt hat!

Wer dem Fanboy/girlism erlegen ist und sich persönlich in seiner/ihrer Ehre angegriffen fühlt, weil ein geliebtes Werk negativ kritisch beäugt wurde, sollte in sich gehen und ausloten, ob man nicht bereits die Schwelle zur parasozialen Beziehung mit einem Franchise überschritten hat. Macht die Kritiker nicht für eure Gefühle verantwortlich! Es gibt buchstäblich kein Werk, das ausschließlich positive oder negative Seiten aufweist. Auch ich finde an meinen Lieblingswerken immer wieder Facetten, die weniger gelungen, oder gar schlecht sind. Auch lese ich lieber einen schön geschriebenen Verriss von etwas, das ich mag, als eine leere Hülle an Lobpreisungen, die mir als Leser nichts neues bereithält.

Klar kann eine Kritik auch misslungen sein. Genauso wie die Lesenden haben Kritiker einen unterschiedlichen Erfahrungsschatz. Nicht jeder hat viele hundert Filme aus unterschiedlichsten Jahrzehnten gesehen und sich mit Filmtheorie beschäftigt. Nicht jeder kann eine Vorliebe für das jeweilige Genre nachweisen, am besten mit Auszug aus der Trophyliste der gespielten Games. "Wie? Du hast Dark Souls nicht mehrfach durchgezockt? Du kannst ja gar nix!" 

Gleichzeitig kann das aber nicht die Grundvoraussetzung dafür sein, eine Kritik verfassen zu dürfen. Niemandem darf Kunstkritik verboten sein. Allerdings darf auch jede Kritik wiederum Gegenstand einer Metaanalyse sein und ihrerseits kritisiert werden. Erst aus der Summe aller Kritiken ergibt sich ein Gesamtbild, an dem man sich grob orientieren kann. 

Wer sich ungern mit anderen Meinungen auseinandersetzt, findet im Netz mit Leichtigkeit die Kritiker, die den eigenen Geschmack am besten abbilden. Wenn man Kritik als reine Kaufberatung versteht, finde ich das legitim. Man sollte dabei aber wie bei Kulturgütern auf die Metaebene achten. Nochmal zum Mitschreiben: Kritiken sind immer subjektiv. Das bedeutet daher leider auch, dass sie manchmal ein Instrument der Identitätspolitik sind.

Schalte doch das Hirn ab und genieß! 

In den letzten Jahren wurde beispielsweise immer wieder "Agenda!", "Woke!" oder "The Message!" geschrieen, um ein Werk mit dem identitätspolitischen Holzhammer abzukanzeln. Nebenbei funktioniert das auch super als Dogwhistle. Sofort weiß die Meute um welchen Scheiterhaufen sie sich zum Reviewbombing versammeln muss. Da die Kritiker dieser Sorte meist ausschließlich eine oberflächliche formale Analyse der Werkumsetzung mit etwas Cherrypicking betreiben, simulieren sie damit ihrer Crowd gegenüber den vollen Durchblick zu haben. Da die ja so kluk sind, glauben ihre Fans, dass Kritiken aus ihrer Feder per se objektiv und damit legit sind. Der bequeme Nebeneffekt der Aktion: man immunisiert sich gegenüber Widersprüchen. Nein, nein! Keine Gegenargumente erlaubt! Alle anderen müssen falsch liegen.

Gerne wird dabei eine ominöse gegnerische Seite aufgebaut. Diese wird als böse, homogene und hintertriebene Schattenmacht dargestellt die heimlich lauernd die Welt ins Dunkel stürzen will. Beliebt ist auch die Forderung, man möge doch bitte Politik aus der Kunst heraushalten. So ein Blödsinn sollte in den Symptomkatalog zur Erkennung von Schlaganfällen aufgenommen werden. Kunst war schon immer (auch) Ausdruck von Politik. Sozialkritische Botschaften finden sich ebenso wieder, wie Forderungen nach Wandel oder der reaktionäre Impuls, es möge endlich wieder so werden, wie es noch nie war. 

Ich, weiß, das stört vor allem, wenn einem die Botschaften nicht passen. Der Vollständigkeit halber sei nochmals erwähnt, dass die Botschaften nicht automatisch progressiv sein müssen. Es gibt auch genug regressive Werke, an denen man sich stoßen kann. Alternativ könnte man sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen. Das geschieht jedoch äußerst selten. Meist wird nur gejammert und geschimpft. "Schlimme Welt! Wir sind verdammt! Man hat uns alles genommen!"

Ganz ehrlich: wer auf diesem Level Kritik betreibt, schafft es meist nicht aus dem Sumpf der Meinung heraus. Beklatscht werden sie dann von Dudes wie micropenis_1995 und Konsorten.

Wie bereits gesagt: einfach ignorieren!

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