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Death is not the End

Sam Porter Bridges steht im Zeitregen und hält nach den Gestrandeten Toten Ausschau 
  

"Alles ist wahr, bis auf die Lügen." - Fragile

Als das Gewebe, das die Welten der Lebenden und der Toten trennte, brüchig wurde, kam es zur ultimativen Katastrophe. Übrig blieb eine zerstörte Welt und eine zerrissene und fragmentierte Gesellschaft. Diejenigen, die der Vernichtung enkommen konnten, leben nun weit verstreut im ganzen Land, allein oder in kleinen Gruppen, oft isoliert voneinander. 

Die Welt ist karg. Meist wachsen nur Moos und Gras auf dem felsigen Untergrund. Einsam stapft Protagonist Sam Porter Bridges (Norman Reedus) durch die Ruinen einer untergegangen Gesellschaft, erklimmt Berge und wandert über Hügel und durch Talsenken verwüsteter Landschaften. Seine Mission: er liefert dringend benötigte Güter zu den Oasen, in denen noch Menschen leben. Dabei erfüllt er den letzten Wunsch seiner Adoptivmutter Bridget und versucht so viele wie möglich in das Netzwerk ihrer Firma namens Bridges zu integrieren. Bridges soll eine neue Gesellschaft formen und damit den Menschen eine Hoffnung auf die Zukunft geben, darauf dass überhaupt eine existiert. Seine persönliche Motivation: in den Westen des Landes gelangen, um seine "Schwester" Amelie (Lindsay Wagner) aus den Fängen von Terroristen zu retten.

Dabei muss sich Sam widrigen Umweltbedingen wie Zeitregen stellen, den titelgebenden gestrandeten Toten möglichst aus dem Weg gehen und seine Haut vor verrückt gewordenen Dieben schützen. Und als sei das noch nicht genug Stress, plant eine Gruppe, um den mysteriösen Higgs Monaghan (Troy Baker) das genaue Gegenteil von Sam: das sechste globale Auslöschungsereignis auf der Erde auszulösen - und damit ein Massensterben, das auch die Menschen vernichten wird. 

"Ein Strand ist Teil eines Seiles oder eines Bands. Stranden heißt an Land gespült zu werden, während gestrandet sein bedeutet nicht nach Hause gehen zu können." - Amelie

Als im November 2019 Death Stranding von Kojima Productions erschien, war ein nicht unerheblicher Teil der Spieler äußerst irritiert darüber, in welchen Gefilden der Metal Gear Schöpfer fischte. Statt schleichlastiger Tactical-Espionage-Action sollte man hier Pakete von A nach B bringen?! War das ein schlechter Scherz oder meinte Hideo Kojima das etwa ernst? Natürlich meinte er es ernst. Nach seiner dramatischen Trennung von Konami war dem Spieldesigner wohl nach einer Abwechslung. In vielen Belangen ist Death Stranding daher die Antithese von Metal Gear. 

Kampf spielt hier eine untergeordnete Rolle. Den Toten, die auch GD (Gestrandete Dinge) genannt werden, weicht man lange Zeit besser aus. Sie sind zunächst nicht zu besiegen. Sam trägt ein Baby in einer Kapsel mit sich herum. Diese BB's, sogenannte Bridge-Babys, werden hirntoten Müttern entnommen und bilden quasi eine Brücke zwischen dem Dies- und dem Jenseits und können die GD orten. So warnen die BB ihre Träger vor deren Anwesenheit. Ja, in Death Strandig zeigt Kojima auch seine morbide Ader. 

Wenn Kampf gegen menschliche Gegner stattfindet, wird man möglichst keine tödlichen Kräfte einsetzen. In der Lore der Welt ist es nämlich so, dass eine Leiche binnen 48 Stunden entsorgt werden muss, bspw. in einem Krematorium. Geschieht das nicht,  wird der Körper nekrotisch und vergeht in einer gewaltigen Explosion. Das hinterlässt in der Spielwelt gigantische Krater, was einem langfristig das Leben durchaus schwerer machen kann. In missionskritischen Gebieten der Open World ist diese Mechanik jedoch nachvollziehbarerweise deaktiviert. Trotzdem ist es klüger Gegner nicht umzubringen.

Sam, vollbepackt, versucht Diebe (MULEs), mit seiner Bola-Gun zu fesseln

Statt Kampf, ist hier die Überwindung von großen Distanzen und die sichere Übergabe von Lieferungen die größte Herausforderung. Das wird mit fortlaufendem Handlungsfortschritt durch allerlei freigeschaltete Gadgets vereinfacht und interessanter gestaltet. An der Stelle kam in Spielerkreisen der Gag vom DHL Simulator auf. Das ist nicht ganz falsch, geht aber auch ein gutes Stück am Ziel vorbei.

Das Gameplay fokussiert sich auf einige wenige Kernaspekte, spielt diese aber konsequent aus. Jedes Paket, jeder Ausrüstungsgegenstand wiegt etwas. Die Art der Lagerung und Positionierung an Sams Körper wirkt sich auf die Steuerung aus. Also muss man bei jedem neuen Gang erneut planen: Wo muss ich hin? Welche Gadgets werde ich vermutlich brauchen? Wie viele Pakete nehme ich mit? Lieber weniger, um leichter und beweglicher zu sein, oder lässt das Terrain auch einen fast überladenen Sam gut ans Ziel kommen? Anderes Beispiel: Eine Pizza überbringen? Wiegt ja nix, kann ich also bedenkenlos mitnehmen. Allerdings sollte man dann nicht so dumm sein, die Pizza in vertikaler Position zu den Paketen auf den Rücken zu stapeln. Und ja, man sollte auch nicht damit auf die Schnauze fallen. Wer unaufmerksam durch die Welt reist wird nämlich häufiger den Boden küssen, als einem lieb sein kann.

Immer dann, wenn man eine neue Region an das Bridges Netzwerk angeschlossen hat, kann man die gebauten Brücken, Seilbahnen, Leitern, Seile, Fahrzeuge und verlorenen Gegenstände anderer Spieler sehen und nutzen. Es gibt also einen sehr interessanten asynchronen Multiplayerteil, in dem man obendrein gemeinsam über das Einzahlen von Materialien an festgelegten Depots Straßen baut, die die Open World durchziehen. Mit Fahrzeugen geht es dann umso schneller ans Ziel. Bauwerken, hinterlassenen Gegenständen und Hinweisschildern anderer Spieler kann man sogenannte Likes vergeben, die eine Art Währung im Spiel darstellen. So setzt sich die Message über das Gemeinschaften bilden auf einer Metaebene in dieser Gameplaymechanik fort.

Ein Spieler hat ein Schild hinterlassen. Leiter benötigt. Hinten sieht man ein Kletterseil eines anderen Spielers. Zeit Likes zu vergeben! 

Die Open World stellt hier glücklicherweise keine Ausrede dar, um den Spieleralltag mit unzähligen langweiligen und repetetiven Minispielchen anzufüllen. Es gibt auch keine Flut an Aufgaben wie "Erobere zehn gegnerische Basen!" Wer wie ich ein Problem mit Check-Listen-Gameplay hat, wird hier einen Happy-Place vorfinden. 

Wenn man sich auf die Geschichte konzentrieren will, nimmt man nur die Missionen an, die das Spiel als notwendig markiert und ignoriert den Rest. Ich hatte 2019, in meinem ersten, sehr gemütlichen Durchgang über 75 Stunden gebraucht und habe vor einigen Wochen einen zweiten gewagt. Diesmal war ich in unter 35 Stunden bei den End-Credits. Das funktioniert auch nur deshalb, weil Crafting auf ein Minimum reduziert wurde, man die wichtigsten Utensilien im Verlauf der Hauptstory freischaltet, man also nichts Essentielles verpassen kann, und es keinen Fertigkeitenbaum gibt, den man mühselig abarbeiten müsste.

Die einzige Karotte, die den Spielern vor die Nase gehalten wird, ist ein Bewertungssystem, in dem Sam in verschiedenen Kategorien quasi Reputation sammelt. Mit jeder Lieferung wird bewertet wie schnell man war, wie viele Pakete unbeschadet ankamen etc pp. Das Erreichen von Meilensteinen wird natürlich vom Spiel belohnt. Allerdings füllt sich die Reputation auch sehr angenehm, wenn man einfach nur der Hauptgeschichte folgt und gezielt einige auf dem Weg herumliegende Pakete gleich mit einsammelt. Also ja: kein Grind notwendig. 

Wenn man eine Lieferung abgibt, geht's ans bewerten. In diesem Segment erfährt man auch, wie viele Likes anderer Spieler man zwischenzeitlich erhalten hat.

"Wenn du keine Angst vor dem Tod hast, wie kannst du dann das Leben wertschätzen?" - Sam

Die Grafik des ursprünglich auf der PS4 erschienen Spiels sieht heute noch fantastisch aus. Die Decima Engine aus dem Hause Guerilla Games (Killzone, Horizon) läuft butterweich und zaubert eine schön schreckliche Einöde auf den Bildschirm. Am besten läuft das Spiel natürlich in der PS5-Edition. Da das Liefern von Gegenständen per Pedes im Vordergrund steht, floss viel Arbeit in die Animation von Sam Porter Bridges. Gehen, Laufen, Rennen, Stolpern, Hopsen, Treten, Schlagen, Stampfen, Klettern, Kraxeln, Abseilen usw. - Inkusive Variationen, die das mitgeschleppte Gewicht berücksichtigen - alles wurde bedacht. Auch die Zwischensequenzen sehen nach wie vor toll aus. Nach einem etwas lahmen Einstieg mit sehr viel ungelenk vorgebrachter Exposition werden die Filmunterbrechungen bis zum Ende hin deutlich besser gewichtet. Gameplay steht hier im Vordergrund. 

Die Atmosphäre von Isolation, Einsamkeit und unerfüllter Sehnsucht wird entscheidend vom Score mitgetragen. Zu bestimmten Zeitpunkten werden Songs eingespielt, meist von der isländischen Post-Rock-Indie Band Low Roar, die im Zusammenspiel mit den Bildern regelmäßig Gänsehaut verursacht.

GDs sind wie über Nabelschnüre (Strands) miteinander verbunden. In solchen Gebieten heißt es: weglocken, umgehen oder mit Blutmunition vernichten. Hin und wieder muss man flugs die Beine in die Hand nehmen.
 

"Ich bin Fragile, aber ich bin nicht SO fragil." - Fragile (Léa Seydoux) 

Die Metal Gear Reihe bot immer sehr abgefahrene und teils arg verworrene Geschichten. Intrigen waren teils häufiger verschachtelt erzählt als wenn man Inception in ein Inception in ein Inception packen würde. Death Stranding ist episodenhaft gestaltet, während Sam seiner Hauptaufgabe, der Reise in den Westen der ehemaligen USA, nachkommt. Die einzelnen Episoden werden relativ klar abgegrenzt von Sams eigener persönlichen Geschichte erzählt. Das hilft enorm dabei nicht den Strand, ähm ich meine den Faden zu verlieren. Hier und dort gibt es Verbindungen, aber im Grunde könnte man auch alle Plots getrennt voneinander sehen ohne einen wichtigen Aspekt dabei zu verlieren. Dafür geschieht umso mehr auf der Metaebene. Man kann diese sehr gut ignorieren, wenn man das unbedingt möchte, und einfach nur das Spiel genießen. Jedoch lohnt es sich tiefer einzutauchen. Es gibt unglaublich viel Interpretationspotential, dessen Zugang mal mehr mal weniger verschlossen ist. 

Kojima gibt mit der Titelkarte zu Beginn des Spiels das Thema der Geschichten in Death Stranding vor: 

Das "Seil", ebenso wie der "Stock", sind die ältesten Werkzeuge der Menschheit. Das Seil soll das Gute zu uns heranziehen, der Stock das Schlechte fernhalten.

Sie waren unsere ersten Freunde, von uns selbst erschaffen. Überall dort wo Menschen leben, befinden sich auch der Stock und das Seil.

aus Kōbō Abes "Nawa"
 
Kōbō Abe war ein japanischer Schriftsteller, der oft mit Franz Kafka verglichen wird. Bevorzugt gestaltete er seine Geschichten über Isolation, Entfremdung, Metamorphose und Identität mit dem Stilmittel der Allegorie. Hierbei werden Dinge, Personen und Ereignisse aufgrund bestimmter ähnlicher Merkmale miteinander in Beziehung gesetzt und synonym füreinander verwandt. Es handelt sich um sprachliche Bilder, die Memecharakter haben können. Mit diesen Bildern können auch komplexe Themen wie bspw. Moral und Ethik den Lesern begreiflich gemacht werden. Die gleiche Basis des Bildcodes ist hier essentiell für das Verständnis. Ein Beispiel: Nur derjenige, der die Geschichte von Sisyphos kennt, weiß, dass man bei Erwähnung einer "Sisyphos-Arbeit" am besten gleich das Weite suchen sollte.
 
Der Gestrandete Tod wir immer wieder durch Wale symbolisiert dargestellt. Hier sind auch die nabelschnurartigen Stränge gut zu sehen. 

"Zuerst gab es eine Explosion. Ein Knall, der das Leben entstehen ließ, wie wir es kennen. Und dann kam die nächste Explosion." 
 
Die Titelkarte alleine gibt zu den Interpretationsansätzen ausreichend Hinweise an die Hand, um den Metatext der Handlungen deuten zu können. Meiner Auffassung nach stellen Stock und Seil zwei diametral entgegesetzte Auffassungen bezüglich des Miteinanders in unserer Gesellschaft dar. 

Der Stock steht in Death Stranding für Individualismus, überspitzt ausgedrückt für eine extrem libertäre Haltung. Die Figuren, die sich nicht der großen Gemeinschaft anschließen wollen oder sich sogar aktiv an ihrer Zerstörung beteiligen, lassen immer wieder folgende Geisteshaltung durchblicken: "Wenn sich jeder selbst hilft, ist jedem geholfen."

Das Seil hingegen symbolisiert die Integration in die Gemeinschaft, in ihrer extremen Form sogar die vollkommene Auflösung des Individuums in ihr, da das Individuelle seine Daseinsberechtigung verliert. Alles ist der Gemeinschaft unterzuordnen.

Death Stranding legt das Hauptaugenmerk auf die postitive Konnotation der vereinigenden, rettenden Bande des Seils. Dennoch erkennt Kojima an, dass eine Balance zwischen Individualismus und Gemeinschaft erreicht werden muss. Zu viel Indivdualismus und es artet in Gewalt aus. Jeder denkt nur an sich und kämpft um begrenzte Ressourcen. Zu viel Gemeinschaft hingegen schnürt dem Individuum den Atem ab und nimmt ihm in vollkommener Überwachung den notwendigen Raum zur Entwicklung. 

ALARM! Ab hier gilt Spoilerwarnung! ALARM!

Bridges überwacht beispielsweise alle, die sich dem Netzwerk angeschlossen haben. Mehrfach sprechen Deadman (Guillermo del Toro) und Heartman (Nicolas Winding Refn) verklausulierte Warnungen gegenüber Sam aus, vorsichtig zu sein, was er wie und wo sagt. In einer zunächst absurd anmutenden Szene, inszeniert Deadman gar einen Zwischenfall, der ihm eine Ausrede gibt, sich (in voller Montur!) in Sams Dusche zu stellen und Sam zu sich zu locken, damit sie unter der laufenden Brause nicht abgehört werden können. Auch Heartman wendet einen Trick an, um ungestört mit Sam reden zu können. Das Unterfangen von Bridges birgt also zumindest die Gefahr in sich den Menschen den Atem abzuschnüren, so wie die Leine in Abes Geschichte den Hund stranguliert. Hierzu später ein genauerer Einblick, wenn ich den Antagonisten unter die Lupe nehme.
 
 
Es ist sicher kein Zufall, dass die verbliebene Landmasse Nordamerikas in etwa der Form eines gestauchten Pottwals ähnelt. Warnender Hinweis im Firmenlogo von Bridges: Das Spinnennetz ist ein Verweis auf das Netzwerk, aber es symbolisiert auch eine tödliche Falle.

"Zieh am Seil oder schneid die Schlinge durch. Aber was auch immer du tun wirst, zögere nicht!" - Amelie/ die Extinktionsentität

Selbstredend sind auch weitere Interpretationen für Stock und Seil denkbar, die sich ebenfalls aus der Handlung ableiten lassen. Die offensichtlichsten wären bspw. Waffengewalt und Zusammenarbeit, Krieg und Frieden, Einsamkeit und Gesellschaft oder Freiheit und Unterwerfung.

Kōbō Abes allegorische Geschichten sind voller Doppeldeutigkeiten und (scheinbarer) Widersprüche. Kein Zufall, dass Doppeldeutigkeit ebenfalls eine Vorliebe Kojimas ist.
 
Allein schon der Begriff "Stranding" lohnt ein Nachschlagen im Wörterbuch. Im English-Dictionary bedeutet "strand" je nach Kontext unter anderem: Strang, Faden, Meeresstrand, Gestade, Handlungsfaden, etwas verseilen, scheitern lassen, stecken bleiben, auf Grund laufen, jemanden stranden lassen. Ja, alle diese Bedeutungen finden sich in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder im Spiel. 

In Mama (Margeret Qualley) und ihrer Zwillingsschwester Lockne kommen gleich mehrere Doppeldeutigkeiten zusammen. Beide sind jeweils auf ihre Art und unter umgedrehten Vorzeichen eine Mutter und doch wieder nicht. Sie sind zwei verschiedene Figuren und doch die gleiche Person. Im Verlauf verschmelzen die lange voneinander getrennt lebenden Schwestern sogar auf einer metaphysischen Ebene miteinander und bilden erneut eine Einheit. Über sie wird das Thema der Dualität der Welt des gestrandeten Todes gespiegelt. 
 
Im Spiel sind die Welten der Lebenden und der Toten chiral zu einander wie die linke und die rechte Hand. Sie sind gleich und doch nicht gleich. Dementsprechend bildet sich eine Ressource im Spiel, das Chiralium, als Kristalle in Form von Händen heraus. Verbunden werden sollen die Menschen im Spiel über das chirale Netzwerk. Dieses Netzwerk wurde von Mama und ihrer Schwester Lockne erfunden. Mama war für die Software zuständig, Lockne baute die Hardware - zwei Seiten der gleichen Medaille, die untrennbar zusammengehören, aber trotzdem nicht das gleiche sind.
 
Der erste Bosskampf wird durch einen vom Himmel fallenden Wal eingeleitet. Beim Auftreffen verwandelt er sich. Die Kämpfe sind jedoch nicht allzu herausfordernd.
 
"Es ist irgendwie komisch. Selbst wenn das Herz aufhört zu schlagen, verweilt der Schmerz." - Heartman

Kojima gibt seinen Figuren gerne Rufnamen, die ihre Funktion innerhalb der Handlung wiederspiegeln oder ihren Charakter oder Motivation zusammenfassen. Das ist kein ungewöhnliches Stilmittel, allerdings pfeift er auf Subtilität. Metal Gear brachte beispielsweise Solid Snake, Liquid Snake oder Big Boss hervor. Natürlich haben die Figuren auch immer bürgerliche Namen, aber die Rufbezeichnungen waren die, die hängen bleiben sollten.

Neben Figuren wie Deadman, Fragile und Heartman ist Mama wohl der plakativste der Namen. Über diesen Umstand kann man mit den Augen rollen, aber ich muss zugeben, dass dieser Kojima Kitsch trotzdem oder gerade deshalb oft seinen Zweck erfüllt. Er erschafft seine eigenen Allegorien. Sie lassen sich dadurch in anderen Geschichten einsetzen, um dort als Stellvertreter für Konzepte und Ideen fortzubestehen.
 
Doch auch die bürgerlichen Namen werden dieser Funktion untergeordnet. Protagonist Sam Porter Bridges beispielsweise: Samuel kann als "Gottes Geschenk" (aus dem Griechischen) oder "von Gott gehört" (aus dem Hebräischen) gelesen werden. Seine Adoptivmutter Bridget ist eine göttliche Entität, deren Körper und Seele getrennt voneinander in den verschiedenen Welten existieren. Bridgets Zweck es ist das globale Massensterben auszulösen. Sie ist nicht böse, aber auch nicht gut. Sie ist an ihre Bestimmung gebunden. 
 
Seit Bridgets Seele Baby-Sam an einem ihrer Strände im Totenreich fand, befinden sich ihr Stock und ihr Seil in Disbalance. Das führt sogar zu einer Art körperlichen Aufteilung in zwei Personas. Bridget, verweigert sich ihrer Bestimmung mit aller Kraft. Sie wird das Unternehmen Bridges gründen, das die Menschen vereinen soll. Persona zwei ist ihre "Tochter" Amelie, die ihr wie ein Klon gleicht. Amelie fühlt sich dem Zweck ihrer Existenz verpflichtet: Auslöschung. 
 
Bridget hofft, dass Sam einen Aufschub für die Menschheit erwirken kann als sie ihm seinen Auftrag gibt. Somit ist Sam, wenn er als Baby mit diesem Teil der Entität in die Welt zurückkehrt gleichzeitig ein Geschenk Gottes als auch von Gott erhört. Die beiden angenommenen Nachnamen Porter und Bridges stehen unverklausuliert für seine Berufe als Gepäckträger und Brückenbauer.
 
Es ist ziemlich offenkundig wer in der Geschichte von Death Stranding das Seil verkörpert: Ironischerweise ausgerecht Sam, der genau genommen nicht mehr am Leben sein sollte, keinerlei körperliche Berührungen erträgt, am liebsten für sich ist und die Isolation liebt, soll eine Gemeinschaft schmieden. 

Seit dem Tod ihrer "Mutter" Bridget fokussiert sich Amelie auf ihre Aufgabe als Extinktionsentität. Der umgedrehte Regenbogen ist ebenfalls ein wiederkehrendes Element. 



 
"Ich frage mich, wirst du blinzeln, wenn du dem Tod in die Augen schauen wirst?" - Higgs
 
Für den Stock stehen zwei Figuren Pate. Beide tragen, so wie viele Teile der Handlung und der Charaktere, eine tiefe Ambivalenz in sich. Die erste Figur ist der ehemalige Special Forces Soldat Clifford Unger (Mads Mikkelsen). Als Cliff noch lebte war sein Kind ein Bridge Baby. Sam, um genau zu sein. Beim Versuch Baby-Sam vor Bridges zu retten kam Cliff ums Leben. Jetzt, da das Massensterben kurz bevorsteht, beginnt sein Geist Sam heimzusuchen, doch er erkennt ihn nicht wieder. Im Irrglauben Sam trage Cliffords Baby bei sich, zieht er ihn immer wieder in Schlachtszenen historischer Kriege hinein, um ihn zu töten und BB wegzunehmen. Die Ironie daran: Als Stock versucht er dem Ziel seiner Sehnsucht nach einer Familie, also dem Seil, näherzukommen und scheitert daran beinahe. Man kann die Konstellation auch als Allegorie auf typische Vater-Sohn-Beziehungen deuten, in denen Liebe füreinander und Kampf miteinander oft Hand in Hand gehen.
 
 
BB ist fast das ganze Spiel über an Sams Seite. Cliff denkt, dass BB sein Sohn Sam ist und versucht Sam zu töten, um an BB ranzukommen.  

Die andere Figur ist Higgs, der Anführer der Terrorgruppe Homo Demens. Sie streben die Zerstörung von Gemeinschaften an. Ironischerweise ist Higgs gleichzeitig das Seil, das alle Terroristen, also Stöcke, unter dem Banner der Homo Demens vereinigt hat. 
 
Seine Motivation lässt sich aus dem Verhalten einer Gruppe Geschwister ableiten, die das wortwörtliche Seil in Kōbō Abes Novelle für grausame Experimente an einem Welpen nutzen.  Sie setzen das angeleinte Tier schließlich auf einem Topf ab. Das andere Ende des Seils binden sie um ein in die Höhe ragendes Rohr. Als der gequälte Hund der Gesellschaft der Kinder entkommen will, erhängt er sich an dem improvisierten Galgen. Eines der Kinder rechtfertigt sich später damit, dass der Hund auf diese Weise nur ein wenig Schmerz erleiden musste im Vergleich zu all den Schmerzen, die er sein ganzes Leben hätte erdulden müssen, hätte er überlebt. Man kann also annehmen, dass das Leben für die Kinder ein Leid darstellt, das abgewendet gehört. 
 
Higgs wird von Sams "Schwester" Amelie von der Unausweichlichkeit des Auslöschungsereignisses überzeugt. Alle Pläne von Bridges würden seiner Auffassung nach lediglich das Leiden verlängern. Warum es nicht wie mit dem Abreißen eines Pflasters halten und es einfach hinter sich bringen? Nachdem er sich mit beinahe gottgleichen Fähigkeiten ausgestattet sieht, würde wenigstens der außergewöhnlichste unter den Menschen das Ereignis auslösen. Ein echter Trost.
 
Der so gar nicht an Hybris leidende Higgs lädt Sam zum Bossfight gegen ihn ein.
  
"Der Name lautet Higgs! Gottes Partikel, das alle Existenz durchdringt." - Higgs
  
Nicht umsonst wurde der Charakter nach dem Entdecker des Higgs-Boson-Elementarteilchens benannt.  Dank einiger hirnverbrannter Verlagsentscheidungen ist es nun auch als "Gottesteilchen" bekannt. Eine kurze Googlesuche jedenfalls offenbart, dass die Eso-Szene den Begriff begeistert aufgreift. Doch das ist ein Rant für einen anderen Blog...

Man könnte nun alle weiteren Charaktere sezieren, ihre Namen untersuchen, ihr Verhalten, Motivation und wie sie das Puzzle um das sechste Artensterben vervollständigen. Über die Kreaturen dieser Welt  oder den Zusammenhang mit altägyptischer Mythologie habe ich noch gar nicht gesprochen. An dieser Stelle will ich jedoch einen Punkt machen und zum Ende kommen.
 
Es kann sehr unterhaltend und erhellend sein, wenn man auf der Suche nach Hinweisen viele Diskussionen unter Spielern verfolgt, weil eine Googlesuche keine direkte Verbindung zum wirklichen Namensquell brachte. Auch die vielen Ingame E-Mails helfen dem Verständnis. Oft geben NPCs profane Spieltipps mit auf den Weg, aber dann und wann geben sie auch einen Fingerzeig auf Hintergründe oder schmücken den Kanon des Spieluniversums aus. Daher motiviere ich jeden, der interessiert ist, sich ins Rabbithole zu begeben, um selber nachzuschauen und eigene Interpretationen zu entwickeln.

Fragile kann zwischen den einzelnen Stränden reisen und hat mit Higgs noch ein Hühnchen zu rupfen.

"Ich lebte eine Lüge. Ich war gebrochen. Doch irgendwo entlang des Weges begann ich mich zu verändern." - Sam 

Und mit Sam verändert sich auch die gebrochene Welt - und mit ihr auch ein wenig die Spieler. Die Bewohner des verheerten Landes spiegeln Sams Taten, melden sich bei ihm, bilden ihrerseits im Hintergrund Verbindungen, schöpfen Hoffnung. Es wird glaubhaft die Illusion erzeugt, als könne man einen positiven Einfluss auf die Spielwelt nehmen. Das gelingt vielen anderen Games nicht. Zudem überträgt sich die leicht melancholische Atmosphäre der leeren, rauen Welt, die anstrengenden Laufwege, Sams Pein, aber auch seine Freuden über erreichte Meilensteine auf die Spieler. 

Kojima wird für Metal Gear auf ewig einen Platz im Spieleolymp und in den Herzen der Spieler haben. Die Reihe sprühte stets vor innovativen Spielkonzepten und Ideen. Auch die ungewöhnlichen, teils sehr kryptisch erzählten Spionageplots waren immer Teil seines Markenzeichen gewesen. Doch Death Stranding hat bewiesen, dass der Geschichtenerzähler in ihm erst jetzt zu voller Reife gelangt ist. 
 
Nun muss er nur noch sein Expositionsproblem in den Griff bekommen.


Systeme: PC, PS4, PS5

 

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